DIE ZEIT
46/2005
Schwerer Weg ins Paradies
Ende des Jahrzehnts will Kroatien EU-Mitglied sein. Korruption, Bürokratie und verschleppte Reformen gefährden den Beitritt
Von Christian Tenbrock
Los ging es mit einem Symbol des US-Kapitalismus. Im Herbst 1991, kurz nachdem Bomben auf Zagreb gefallen waren, gründete Emil Tedeschi eine Großhandelsfirma, die aus dem Ausland importierte, was im Inland nicht zu bekommen war. Kroatien befand sich im Krieg, aber Kaugummi wollten auch die Kroaten kauen. Also stellte Tedeschi, damals 24, Wrigley-Wimpel und Wrigley-Spearmint-Plakate in kroatische Kioske und Geschäfte. Heute kontrolliert er 95 Prozent des kroatischen Kaugummi-Markts.
Er kontrolliert auch die Verteilung von Duracell-Batterien, Johnson & Johnson-Puder, Ferrero-Pralinees, Nestlé-Tierfutter und ein paar Dutzend anderer Markenprodukte. Außerdem ist Tedeschis Firma Atlantic-Grupa im Sandwich-, Vitamindrink- und Körperpflegegeschäft aktiv. Damals, 1991, sei er »ein grüner Junge in einer gerade geborenen Nation« gewesen, sagt der groß gewachsene, smarte Mann im dunkelgrauen Nadelstreifenanzug. Inzwischen steht er einem Unternehmen mit 185 Millionen Euro Umsatz vor, einem der zehn größten in Kroatien.
Wie sein Land sind Tedeschi und seine Firma den Kriegswirren und der politischen Eiszeit der neunziger Jahre entwachsen, und wie sein Land hat sich Tedeschi längst auf den Weg nach Europa gemacht. Markenprodukte aus der Neuen Welt spielen im Sortiment der Atlantic-Grupa noch immer eine bedeutende Rolle - aber das Wachstum bringen die Märkte in der Alten. Tedeschi hat Büros und Lagerhäuser in Serbien und Montenegro, in Bosnien-Herzegowina, in Slowenien und in Italien. Dass er im Sommer, etwa zur gleichen Zeit als Kroatien die letzten Hürden für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union überwand, auch in Hamburg ein Unternehmen übernahm, war nur Zufall. Symbolisch war es gleichwohl. Die Atlantic Grupa kaufte den Fitnessprodukte-Hersteller Haleko, eine Firma mit 275 Angestellten und 60 Millionen Euro Jahresumsatz. »Ein Riesenerfolg«, sagt Tedeschi. Einen »Riesenerfolg« nennt er auch Kroatiens Aufnahme in die Reihe der EU-Kandidaten.
Dort, und als Teil Europas, sieht sich das Land schon lange. Kroatien mit dem Balkan in Verbindung zu bringen gilt in Zagreb als Beleidigung. Aber das von Gewalt und Vertreibung geprägte Schicksal des Balkans hat auch den 4,4 Millionen Kroaten lange das Tor nach Europa versperrt. Während Polen oder Ungarn schon in den frühen Neunzigern begannen, sich politisch und ökonomisch nach Brüsseler Muster umzustellen, stand Kroatien im Krieg - und nach dessen Ende 1995 kamen fast fünf Jahre autoritärer Herrschaft des Ultranationalisten Franjo Tudjman. »Ein verlorenes« sei das vergangene Jahrzehnt gewesen, sagt der Zagreber Politologe Damir Grubisa.
Der Aufbruch begann mit der Machtübernahme der Opposition im Jahr 2000. Erst 2004 erreichte Kroatiens Wirtschaftsleistung wieder die von 1989. Erst im laufenden Jahr nahmen an den 1000 Kilometer Küste des Landes erneut so viele Touristen Quartier wie während der letzten Urlaubssaison vor dem Zerfall Jugoslawiens. Und erst im Spätsommer - nachdem Kroatien eine bessere Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag garantiert hatte - war auch die EU-Kommission überzeugt davon, dass das Land seinen Kandidatenstatus politisch verdient. 2009 oder 2010 soll Kroatien EU-Mitglied sein.
»Es werden harte und schmerzhafte Jahre werden«, sagt Emil Tedeschi. Warum das so ist, erschließt sich beim Besuch Zagrebs oder beim Blättern in kroatischen Wirtschaftsstatistiken erst auf den zweiten Blick. Die Stadt, mitteleuropäisch wie Graz oder Klagenfurt, ist voll neuer Autos und voll gut gekleideter Menschen. Es wird gebaut. Die Wirtschaft ist stabil und wächst, zuletzt mit Jahresraten von etwa vier Prozent, die Inflation ist weit niedriger als in den meisten Staaten Ost- und Zentraleuropas. Dem Pro-Kopf-Einkommen nach sind die Kroaten doppelt so reich wie die Bewohner der beiden anderen Kandidatenländer, Rumänien und Bulgarien. Echte Armut ist selten, zumindest in Zagreb.
Aber Zagreb ist nicht Kroatien. Über die Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung wird in der Hauptstadt und ihrer engeren Umgebung geschaffen - von wenig mehr als einem Viertel der Bevölkerung. An den Regionen des Südostens und des Südens ist das Wachstum dagegen weitgehend vorübergegangen. Die Spuren des Krieges sind dort noch immer sichtbar; die Arbeitslosigkeit, so Sandra Svaljek vom Zagreber Wirtschaftsinstitut EIZ, liegt örtlich über 35 Prozent, die Einkommen liegen 40 Prozent unter dem Durchschnitt des Landes.
Dazu verbirgt der Firnis politischer und makroökonomischer Stabilität tiefe Risse. Sie scheinen in wenig schmeichelhaften internationalen Rankings auf: Der Korruptionsindex von Transparency International platziert Kroatien als Nummer 67, nur Rumänien steht unter den EUnahen Staaten schlechter da. Die Washingtoner Heritage Foundation sieht das Land, was die Freiheit der Wirtschaft angeht, auf Rang 74 - so weit hinten wie Uganda oder der Senegal. Beim Index der Wettbewerbsfähigkeit des World Economic Forum schließlich rangiert Kroatien an 58. Stelle, auch hier hinter allen anderen Staaten des östlichen Europas.
An drei Dingen vor allem kranke ihr Land, sagt Katarina Ott, die als Leiterin des unabhängigen Instituts für öffentliche Finanzen zusammen mit anderen Fachleuten für die Friedrich-Ebert-Stiftung die Lage Kroatiens detailliert analysiert hat. Politisch an einer »selbstzufriedenen« Politikerkaste, die über Reformen rede, aber »ihre Umsetzung verschleppt«. Gesellschaftlich an einem in Teilen maroden Justizwesen, »dessen Entscheidungen ewig dauern«. Und ökonomisch an einem aufgeblähten, unbeweglichen Staatsapparat, in dem es vielfach nicht auf Fachwissen, sondern auf Beziehungen ankomme. Noch immer bestimmen in manchen Ministerien und vielen Verwaltungen korrupte, in den neunziger Jahren entstandene Netzwerke die Politik. Der Nachwuchs hat hier in den meisten Fällen kaum eine Chance. »Würden unsere Institutionen besser funktionieren, käme auch die Wirtschaft besser voran«, sagt Ott.
Kroatiens Schiffbau ist der drittgrößte in ganz Europa. Die Frachter und Kreuzfahrer, die in den Docks entlang der Adria zusammengeschweißt werden, sorgen für etwa ein Achtel der kroatischen Exporteinnahmen. Das Problem: Die bisher noch im Staatsbesitz befindlichen Werften verdienen kaum Geld. Würden sie jedoch privatisiert und restrukturiert, »könnten sie mit einem besseren Management und weniger Arbeitern auf Dauer wettbewerbsfähig bleiben«, sagt Anand Seth, der in Zagreb das für Rumänien, Bulgarien und Kroatien zuständige Büro der Weltbank leitet. Aber eine Privatisierung würde die Pfründen lokaler Politiker gefährden. So wird über sie bisher nur diskutiert.
Ähnlich verworren ist die Situation im kroatischen Tourismus, der schon jetzt über ein Fünftel des Inlandsprodukts erwirtschaftet - fast dreimal mehr als in Griechenland - und damit der wichtigste Wirtschaftssektor überhaupt ist. 15 Prozent aller Beschäftigten finden im Geschäft mit den Urlaubern Arbeit, mit dem Ausbau des Reisegewerbes verbindet das Land die größten Hoffnungen für die Zukunft. Nur - nach wie vor haben lokale Verwaltungen in vielen Hotels das Sagen. Um diese zu renovieren und zusätzliche, hochwertige Unterkünfte zu bauen, wäre privates Kapital nötig. Das aber bleibt weitgehend aus, weil klare Konzepte für die Entwicklung des Tourismus fehlen und sich Gemeinden gegen eine Privatisierung »ihrer« Hotelanlagen wehren.
Zugleich gibt Kroatien für Subventionen im Schiffbau, im Tourismus, im Transportwesen und in anderen Sektoren jährlich vier bis fünf Prozent seines Inlandsprodukts aus, vier- bis fünfmal mehr als im Durchschnitt der EU-Mitglieder. Zusätzlich wird der defizitäre Staatshaushalt von der Fürsorge für 400.000 öffentliche Bedienstete - ein knappes Drittel aller Beschäftigten - und eine Million Rentner belastet. Die Auslandsverschuldung Kroatiens hat, gemessen am Inlandsprodukt, inzwischen die 80-Prozent-Marke überschritten.
Das wiederum ist auch Folge der tiefroten Handels- und Leistungsbilanz des Landes. Das Defizit im Warenaustausch mit dem Ausland ist so hoch wie in keinem anderen Transformationsstaat Osteuropas und kann weder durch Einnahmen aus dem Tourismus noch durch die Überweisungen der Auslandskroaten oder die Investitionen ausländischer Unternehmen kompensiert werden. Zwar sieht es beim Engagement der Ausländer statistisch nicht schlecht aus; nach den Daten der kroatischen Zentralbank hat das Land in den vergangenen 15 Jahren pro Kopf der Bevölkerung mehr Investitionen angezogen als etwa Polen oder die Slowakei. Aber anders als in den neuen EU-Staaten wurde kaum in zusätzliche Arbeitsplätze oder exportintensive Branchen investiert. Das meiste Geld floss in die Banken und die Telekommunikation. Österreichische oder italienische Kreditinstitute dominieren das Finanzgewerbe, die Deutsche Telekom besitzt die Mehrheit am kroatischen Telefonbetreiber. »Investitionen, die Wachstum und eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit bringen, gab es dagegen zu wenig«, sagt Vesna Dejanovic, die Chefin des größten Gewerkschaftsverbands SSSH.
Dies ist eine Folge vergangener Kriegswirren. Als in den neunziger Jahren in westlichen Unternehmen grundsätzliche Entscheidungen über den Aufbau von Tochterfirmen im Osten getroffen wurden, war der Balkan alles andere als eine attraktive Alternative. Heute machen ausländischen Investoren ungeklärte Eigentumsverhältnisse, unklare Grundbucheintragungen und eine korruptionsanfällige Bürokratie das Leben schwer. Dazu müssen in Kroatien vergleichsweise hohe Löhne und Sozialabgaben gezahlt werden. »Bei Auslandsinvestitionen auf der grünen Wiese, also dem Aufbau völlig neuer Produktionsstätten, ist der Zug bis auf Ausnahmen abgefahren«, sagt denn auch Zarko Miljenovic, Chefökonom der Bank Zagreb. »Auslandsfirmen sind in Ungarn oder Rumänien gut bedient - wenn sie nicht sogar in die Ukraine oder nach China gehen«, fügt der Unternehmer Emil Tedeschi noch hinzu.
Dabei hat das Land trotz aller Schwächen einiges zu bieten. Neben der ökonomischen Stabilität nennt Weltbank-Vertreter Seth die attraktive Küste, das ausgebaute Straßennetz, die vergleichsweise starken Forschungsinvestitionen und die gut ausgebildeten Beschäftigten. Ericsson macht sich das im Telekombereich bereits zunutze, Siemens beschäftigt in Zagreb etwa 1000 Software-Entwickler, und der Maschinenbauer Harburg-Freudenberger beliefert aus Kroatien 30 Prozent des Weltmarkts für Geräte zur Reifenherstellung. Dazu kommt, dass Kroatien ein Tor zum Balkan sein könnte (siehe den nebenstehenden Artikel) - wenn es gelingt, den Balkan politisch zu stabilisieren.
Viel wird freilich davon abhängen, ob die seit 2003 amtierende konservative Regierung unter ihrem Premier Ivo Sanader überwindet, was ein ausländischer Beobachter »den Mühlstein am Hals der Kroaten« nennt: »Ihr Gefühl, dass Europa ihnen den Beitritt sozusagen schuldet.« Ihr Land arbeite nicht hart genug und vertraue zu sehr darauf, sich irgendwie durchzulavieren, sagt die EIZ-Ökonomin Svaljek. Möglicherweise wird das zum Risiko für den EU-Beitritt: Erstmals kann die Kommission in Brüssel während der Verhandlungen mit Kroatien den Beitrittsprozess einfrieren, wenn die nach ihrer Meinung notwendigen Reformen - im Justizwesen, in der Verwaltung, bei der Subventions- und Privatisierungspolitik - nicht schnell genug vorankommen.
Der wirkliche Wandel in Kroatien habe eben erst vor fünf Jahren begonnen, sagt der stellvertretende Leiter der kroatischen Nationalbank, Boris Vujcic. Mit seinen knarzenden Parkettböden und eichenholzgetäfelten Wänden wirkt das Zentralbank-Gebäude im Zentrum Zagrebs wie ein Hort von Tradition und Stillstand. Tatsächlich gilt die Bank als die am besten funktionierende Institution des Landes und als einer der wenigen Orte, in dem die junge kroatische Intelligenz das Sagen hat. Vujcic war 36, als er seinen Posten bekam, die Neunziger verbrachte er in Frankreich, Amerika und bei der EU-Kommission in Brüssel. 1989 seien Kroatien und sein Nachbar Slowenien die wirtschaftlich stärksten Regionen im gesamten kommunistischen Block gewesen, meint der junge Bankier, heute sei Slowenien weit voraus. »Es gibt also noch einiges zu tun«, sagt Vujcic. »Aber wir bewegen uns.«
Aber auch schnell genug? Emil Tedeschi hofft, dass in Kroatien passiert, was bisher in allen osteuropäischen Ländern die Regel war: dass die Aussicht auf den EU-Beitritt Zauderer und Zögerer in Regierung und Verwaltungen beiseite schiebt. Mehrere Tage im Monat verbringt Tedeschi derzeit in Hamburg, um dort die Integration der übernommenen Haleko in seine Atlantic-Grupa voranzutreiben. Eine Zukunft »auf der anderen Seite der Grenze Europas« sei für ihn »absolut nicht vorstellbar«, sagt er während einer zweiten, zufälligen Begegnung an einer Sicherheitsschleuse des Zagreber Flughafens. Der Sohn habe sich einen Besuch beim Fußballclub Ajax gewünscht, lacht Tedeschi, er, seine Frau und die beiden Kinder sind auf dem Weg nach Amsterdam.
Auf dem Weg nach Europa.