KLAGE GEGEN SERBIEN
"Ein Urteil könnte der Weg zur Versöhnung sein"
Zum ersten Mal verklagt ein Staat den anderen wegen Völkermords: Bosnien-Herzegowina gegen Serbien-Montenegro. Einer der Verteidiger der bosnischen Regierung, Phon van den Biesen, erklärt im SPIEGEL-ONLINE-Interview, welche Folgen ein Gerichtsentscheid hat.
SPIEGEL ONLINE: Herr van den Biesen, Sie klagen vor dem Internationalen Gerichtshof gegen den Staat Serbien-Montenegro, während Slobodan Milosevic und andere frühere Repräsentanten vor dem Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zur Rechenschaft gezogen werden. Was wollen Sie erreichen, was dort nicht schon passiert?
Van den Biesen: All die einzelnen Fälle, mit denen sich der ICTY in Den Haag beschäftigt, sind nur Teil der ethnischen Säuberungskampagne und des Völkermords. Wir wollen alles in einer Klage zusammenfassen. Als Erstes setzen wir uns bei Gericht dafür ein, dass die Morde in Bosnien nicht als ethnische Säuberung, sondern als organisierter Völkermord bewertet werden. Zweitens, wollen wir nachweisen, dass die Bundesrepublik Jugoslawien - heute Serbien-Montenegro - dafür verantwortlich ist und nicht nur ein paar Einzeltäter. Wir hoffen, dass eine Entscheidung noch am Ende des Jahres gefällt wird. Wenn das Gericht auch dann mit uns übereinstimmt, geht es darum, den Schaden zu bestimmten. Das hier ist kein Kriminalfall. Es ist wie eine Zivilklage, bei dem ein Nachbar den anderen verklagt.
SPIEGEL ONLINE: Die Ermordung von mehr als 8000 Muslimen in Srebrenica 1995 wurde vom ICTY bereits als Völkermord anerkannt. Was werden Sie noch nachweisen müssen?
Van den Biesen: Srebrenica war ein schreckliches Verbrechen, aber es war nur Teil der ethnischen Säuberung, die von März 1992 bis Ende 1995 dauerte. Wir werden Srebrenica in unserer Liste der Akte, die zum Völkermord beitrugen, auch erwähnen. Aber wir versuchen wirklich den gesamten Zeitraum und alle Gräueltaten abzudecken, die in Bosnien-Herzegowina passiert sind.
SPIEGEL ONLINE: Wie viel Reparationszahlungen würden Sie grob geschätzt verlangen?
Van den Biesen: Das gehört nicht zum derzeitigen Teil des Plädoyers. Darum werden wir uns kümmern, wenn das Gericht sich in unserem Sinne entscheidet. Dann erst werden wir die Richter bitten festzulegen, nach welchem Muster wir den Schaden ermitteln sollen. Bislang haben wir noch keine Sekunde an die Zahlungen gedacht.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Klage haben Sie bereits 1993 eingereicht. Die serbische Regierung versuchte damals ihren Fall mit einer Gegenklagen zu vereiteln, die sie inzwischen wieder zurückgezogen hat. Gab es zum Prozessauftakt eine Reaktion aus Belgrad?
Van den Biesen: Nein, überhaupt keine. Die serbischen Vertreter werden ihr Plädoyer nächste Woche halten. Ich bin schon gespannt, was sie zu sagen haben.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dieser Prozess setzt die serbische Regierung mehr unter Druck, ihren ehemaligen politischen Führer Radovan Karadzic und den Oberbefehlshaber der serbischen Truppen Ratko Mladic auszuliefern?
Van den Biesen: Das weiß ich nicht. Es ist schwer zu sagen, was überhaupt noch Druck auf die serbische Regierung ausüben könnte. Es ist nun schon mehr als zehn Jahre her, dass Ratko Mladic am Jugoslawien-Tribunal der Vereinten Nationen angeklagt wurde, und bislang hat kein Mittel gereicht, um die Auslieferung durchzusetzen. Für unseren Prozess macht es allerdings keinen Unterschied, da wir verschiedene Experten vernehmen werden. Wir werden keine Zeugen aufrufen, denn ansonsten wären es Hunderte. Wenn wir davon einige auswählen würden, hieße das, ein Opfer ist wichtiger als das andere. Wir sind uns sicher, dass den Opfern eine Stimme gegeben wird durch die Dokumente, die wir dem Gericht vorlegen werden. Diese Papiere werden unsere Thesen nachweisen.
SPIEGEL ONLINE: Sie werden Milosevic also nicht vernehmen?
Van den Biesen: Nein, nein. Er ist in einem anderen Gericht, er sitzt im Gefängnis und wir wollen ihn nicht haben. Offensichtlich hält die andere Seite ihn auch nicht für vernehmenstauglich.
SPIEGEL ONLINE: Sie stützen sich vor allen Dingen auf die Beweise des ICTY. Welche zusätzlichen Belege wollen Sie dem Gericht vorlegen?
Van den Biesen: Wenn es darum geht, sind wir eigentlich schon am Ende des Prozesses. Der Fall hat im März 1993 begonnen und viel zu lange gedauert. Wir haben seitdem viele Dokumente eingereicht: Berichte der Vereinten Nationen, von Menschenrechtsorganisationen und Länderprofile. In 95 Prozent der Fälle stützen wir uns auf unabhängige Quellen. Zu dem Zeitpunkt fing das Tribunal der Vereinten Nationen gerade erst an. Seitdem wurden Zehntausende von Seiten veröffentlicht, die alle verschiedene, einzelne Fälle behandeln. Dieses gesamte Material bestätigt unsere Position und hilft uns enorm. Wir werden dem Internationalen Gerichtshof aber nur die wichtigsten Fälle des ICTY präsentieren.
SPIEGEL ONLINE: Wie würde sich ein Urteil in ihrem Sinne auf die derzeitige Situation im früheren Jugoslawien auswirken?
Van den Biesen: Das Gericht würde mit seiner Entscheidung helfen, den Weg zur Versöhnung frei zu machen. Dieses Ziel war für die bosnische Regierung der Hauptgrund, um mit dem Fall weiter zu machen. Das Problem ist, dass die politischen Führer der Serben in den neunziger Jahren ihrer Bevölkerung so viele Unwahrheiten erzählt haben und ihnen so eine absonderliche Version ihrer eigenen Geschichte geliefert haben. Auch heute greift zumindest die Führungelite immer wieder darauf zurück, dass Serbien das Opfer ist. Diese Rolle versuchen sie auch auf den ganzen Zeitraum der ethnischen Säuberung in Bosnien zu übertragen. Deswegen empfindet es die bosnische Regierung als absolut nötig, dass das Gericht die Situation klärt; damit wir neu anfangen können. Das ist unbedingt erforderlich: Gestern haben wir im Fernsehen eine riesige Demonstration in Belgrad gesehen. Die Leute haben ihre Regierung aufgefordert, Ratko Mladic nicht an den ICTY auszuliefern. Deswegen braucht es wirklich eine maßgebende, unabhängige Meinung, die klarstellt, wer für was verantwortlich war.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie denn, dass Ihr Fall die Meinung der serbischen Bevölkerung ändern kann?
Van den Biesen: Sie akzeptieren die Wahrheit heute nicht - das ist sicher. Viele Menschen in Serbien leugnen sogar das Massaker in Srebrenica. Es bräuchte alle möglichen Mittel, um die Bevölkerung vom Gegenteil zu überzeugen. Eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs würde wirklich helfen.
Das Interview führte Eva Lodde
spiegel-online, 04.03.06